Kärtner Wiegenlied by Andrea Nagele

Kärtner Wiegenlied by Andrea Nagele

Autor:Andrea Nagele [Nagele, Andrea]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783960412847
Herausgeber: emons Verlag
veröffentlicht: 2018-02-06T16:00:00+00:00


4

Janisha Narayan ist erschöpft. Einzelne Haare haben sich aus ihrem Chignon gelöst und kitzeln die Haut am Nacken. Die hellblaue Bluse, die sie bei der Arbeit trägt, ziert ein großer Milchfleck, der säuerlich riecht. Was soll’s, nach einem langen Arbeitstag kann das schon mal vorkommen, denkt sie sich und streift den Rock ihrer Schwesterntracht glatt.

Ihr gegenüber im Dienstzimmer sitzt ihre Kollegin Michaela. Beide halten Becher in der Hand und schweigen. Janisha beobachtet, wie der helle Schaum ihres Caffè Latte langsam mit dem Braun des Kaffees verschmilzt.

Manchmal, wenn zu viele Gedanken in ihrem Kopf kreisen, spricht sie lautlos Mantras oder lenkt ihre Aufmerksamkeit bewusst auf äußere Vorgänge, die nichts mit ihren eigenen Problemen zu tun haben. Dieses meditative Versenken bringt ihr die abhandengekommene Gelassenheit meist zurück.

Nicht so heute. Sobald sie stumm die ihr vertrauten Wortfolgen rezitiert, schiebt sich das blasse Gesicht der jungen, verzweifelten Mutter vor ihr inneres Auge. Auch das Gespräch mit dem Kriminalpolizisten lässt sie nicht mehr los.

Vor dem Fenster hat sich die Dunkelheit des frühen Abends ausgebreitet. Die Äste der alten Kastanie schlagen unruhig gegen die Scheibe. Aus dem Säuglingszimmer dringt das unterdrückte Weinen der Kleinen.

»Sie spüren den Wetterumschwung, unsere Jüngsten«, sagt Michaela.

Janisha schreckt hoch.

»Du siehst müde aus, bist fast eingenickt. Geh doch nach Hause und gönn dir etwas Erholung.« Michaela setzt ihren Teebecher an die Lippen und trinkt.

»Mir geht diese Frau nicht aus dem Sinn. Wäre ich bloß da gewesen.«

»Was hättest du an der Situation ändern können? Es ging doch alles so schnell und war nicht vorherzusehen.«

Die Stimme ihrer Kollegin hat einen leicht gereizten Unterton angenommen.

»So meinte ich das nicht«, entgegnet Janisha beschwichtigend. Sie weiß doch, jeder gibt sein Bestes.

Anders als auf so manchen anderen Stationen herrschen hier uneingeschränktes Vertrauen und gegenseitiger Respekt. Für Janisha eine unabdingbare Grundlage, um eine tragfähige und effiziente Zusammenarbeit im Team zu gewährleisten. Und das soll auch so bleiben. Unter »ihren« Kollegen, in »ihrem« Kinderzimmer, wird sie keinen Misston aufkommen lassen. Sorgfältig wählt sie daher ihre nächsten Worte.

»Es ist einfach ein großes Pech, dass es genau an dem Tag, als sie behauptete, ihr Kind sei vertauscht worden, einen Schichtwechsel, Urlaub und zwei Krankenstände gegeben hat. Denn natürlich hat keiner von euch Max bei und nach seiner Geburt gesehen. Was ist, wenn die Frau recht hat, und ihr Kind wurde tatsächlich vertauscht?«

»Unsinn, so stimmt das nicht, Janisha«, widerspricht Michaela. »Friede war die ganze Zeit über im Haus. Er hat den Jungen einige Male gesehen. Und er schwört darauf, dass der Kleine sich nicht wie durch Zauberhand verändert hat. Er muss es doch wissen. Er ist ja immerhin Arzt!«

Janisha überlegt, wie viel Urteilsvermögen sie Dr. Friede in dieser Hinsicht zubilligen kann. Ganz so das Seine sind die Neugeborenen nicht. Ins Kinderzimmer kommt er, um ein wenig mit den Schwestern zu plaudern, aber sicherlich nicht primär aus Interesse an den Babys.

Nun, vielleicht irrt sie sich in ihrer Einschätzung. Sie glaubt ja selbst nicht ernsthaft daran, dass der kleine Junge vertauscht wurde.

»Gut«, sagt sie und richtet sich auf. »Ich werde mit Dr. Friede sprechen. Eigentlich hatte ich das ja schon länger vor.



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